„Ich fühle mich einfach frei“
Teilzeitjob, eigenes Geschäft - dann Veränderung, mit der die Ruhe kam. Tina Junge aus Wremen hat ihre Manufaktur für Katzenbedarf „Maunz und Merkel“ mit Herzblut und Leidenschaft aufgebaut. Auf Instagram folgen ihr mehr als 4.000 Menschen, das Geschäft lief hervorragend. Ein Ziel für viele, die von selbstbestimmtem Arbeiten träumen.
Nach einem rasanten Weihnachtsgeschäft begann das neue Jahr 2022 für sie mit viel Dankbarkeit, aber auch mit großer Erschöpfung. Bis zum Sommer hangelte sich Junge durch, dann hörte sie auf ihr Bauchgefühl: Die Unternehmerin verabschiedete sich in eine dreimonatige Pause, um zum 10. Firmengeburtstag im September mit frisch getankter Kraft durchzustarten.
Doch „Maunz und Merkel“ blieb auch nach der Pause geschlossen. „Es fühlte sich einfach nicht mehr richtig an“, erinnert sie sich. Seitdem befindet sich die 41-Jährige auf einer beruflichen Sinnsuche. Damit ist sie nicht allein.
Will ich diesen Job wirklich weitermachen?
In der Koordinierungsstelle Frau und Wirtschaft melden sich vor allem Frauen Ende 30, Anfang 40, weiß Nicole Neuber, Leiterin der Stelle. Neben Existenzgründerinnen und Frauen, die nach der Familienphase zurück in den Beruf finden wollen, beraten die Mitarbeiterinnen auch Frauen, die sich beruflich umorientieren wollen.
„In dem Alter befinden sich viele in der Mitte ihres beruflichen Lebens und reflektieren: Will ich diesen Job noch die nächsten 25 Jahre weitermachen? Finde ich mich darin wieder?“, sagt Neuber. Sie kämen mit dem Wunsch im Gepäck, ihre Herzensthemen, Kreativität oder eine Sinnhaftigkeit - gerade auch im sozialen Bereich - in ihrem Job wiederzufinden. Auf der Suche nach ihrem Herzensthema befindet sich auch Junge. Dafür das Geschäft ruhen zu lassen, ist ihr nicht leichtgefallen.
Die Reaktion ihrer Kundschaft hat Tina Junge überrascht
Tierschutzkatze Angie und Junge hatten sich von einem kleinen Nähplatz auf dem Esstisch bis zum Atelier hinterm Deich in Wremen hochgearbeitet. Das Geschäft war nach der Familie über viele Jahre das Wichtigste in ihrem Leben. Bestellungen bestimmten neben dem Teilzeitjob im Hafen den Alltag. Freunde, Sport, Naturerleben kamen immer zu kurz. „Irgendwann war ich an einem Punkt, an dem ich wusste: Wenn du heute frei machst, musst du morgen 14 Stunden arbeiten“, erinnert sie sich.
Wie erklärt man so einen Schritt der Kundschaft? Sie habe lange gebraucht, um die richtigen Worte zu finden. Ihre Kunden auf Instagram zeigten sich traurig, aber verständnisvoll. Nicht wenige wünschten sich in den Kommentaren ebenfalls die Möglichkeit, eine Pause einzulegen und sich mehr sich selbst zuzuwenden.
Gut bezahlter Teilzeitjob macht die Pause möglich
Als Ship-Planerin spielt Junge 22 Stunden die Woche „Tetris im Hafen“. Dieser gut bezahlte Teilzeitjob und die ruhende Manufaktur geben ihr jetzt die nötige Freiheit, sich auszuprobieren. „Durch die Reaktionen habe ich verstanden, dass ich sehr privilegiert bin. Ich habe auch ohne die Manufaktur keine Existenzängste, der Teilzeitjob deckt alles Wichtige ab. Dafür bin ich enorm dankbar“, reflektiert sie.
Die gelernte Speditionskauffrau und studierte Logistikerin ist es gewohnt, Leistung zu bringen. Eigentlich wollte sie Reiseverkehrskauffrau lernen und dann Cruise Management studieren. Ihre Großeltern, die eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielten, bestanden auf einen „richtigen Job“. Einer, der ihr heute Spaß mache, aber nie das gewesen sei, was sie machen wollte.
Lernen ohne Druck und etwas leisten zu müssen
Die Suche nach der beruflichen Bestimmung sei gar nicht so einfach. Sie nutzt die Gelegenheit, ihrer Leidenschaft nachzukommen. Wandert, läuft und bewegt sich in der Natur. Etwas Neues zu lernen, gehört für sie dazu: Die Ausbildung zur Wanderführerin und Reiseleiterin hat sie abgeschlossen. Den Trainerschein für Walking und Nordic Walking will sie als Nächstes in Angriff nehmen. Aber auch zur Ruhe kommen und mehr Zeit für Katze Angie, Familie und Freunde haben jetzt wieder Platz in ihrem Leben.
Tina Junge ist sich sicher, dass mutig sein sich auch für diejenigen lohnt, die keine Stunden reduzieren können. Der Meinung ist auch Nicole Neuber. Die Beraterinnen finden gemeinsam mit den Frauen heraus, was sie mitbringen und was der neue Job braucht, um den Wunsch nach Sinn und die Motivation für die Umorientierung zu befriedigen. Dann würden sie gemeinsam schauen, welche Arbeitgeber es im Landkreis gibt, bei denen sie sich mit ihrem Fachwissen einbringen können und gleichzeitig „dieses Sozialerlebnis haben“, erklärt Neuber.
Vom Küchentisch aus schaut Tina Junge auf die kleine Werkstatt hinterm Deich. Sie kann jederzeit zurück, wenn ihr Herz wieder dafür schlägt. Bis dahin wird sie weiter ihrem Bauchgefühl folgen, denn „Ich fühle mich gerade einfach frei“, sagt sie mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht.