Seit mehr als einem Jahr gibt es die Spaziergänge. Von vielen kritisch beäugt und belächelt. Warum ist das so? Wie ticken die Teilnehmenden eigentlich? Die NORDSEE-ZEITUNG ist mitgelaufen.
Das Thema Corona hat die Gesellschaft in den vergangenen drei Jahren enorm belastet, in Teilen sogar gespalten. Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen, Impfungen - viele Menschen konnten sich mit den von Politik und Verwaltung auferlegten Maßnahmen und Regelungen nicht anfreunden.
Sie fühlten sich in ihrer Freiheit eingeengt. Ungehört von denen da oben, den Leuten mit Regierungsverantwortung.
Die Montagsspaziergänge waren ein Weg, um sich Luft zu verschaffen, Kritik in die Öffentlichkeit zu tragen. Oft mit platten Parolen und Frust bestückt. Eine Plattform für Schwurbler und Fans von alternativen Fakten. Auch in Bremerhaven.
Corona ist jetzt vorbei. Die Spaziergänge sind geblieben. Es stehen andere Themen auf dem Zettel: der Krieg in der Ukraine und die Hoffnung auf Frieden. In Bremerhaven treffen sich die Demonstranten unter dem Titel „Gemeinsam Stark Bremerhaven“. Die NORDSEE-ZEITUNG ist mitgelaufen, möchte ein Bild zeichnen von der Gruppe. Wer spaziert hier jetzt noch mit? Muss man vor den Teilnehmenden Angst haben?
Start ist diesmal in Bremerhaven-Wulsdorf
Treffpunkt ist diesmal Wulsdorf, der große Parkplatz an der Heinrich-Kappelmann-Straße, gleich am Sportplatz. Rund 25 Protestler kommen zusammen, versammeln sich an einem Pkw-Anhänger, der mit Lautsprechern und einer kleinen LED-Wand ausgestattet ist.
Frauen und Männer sind dabei, die meisten sind 40 Jahre oder älter. Viele tragen Warnwesten, sie bringen Fahnen mit. Immer wieder ist darauf das Friedenssymbol schlechthin zu sehen, die weiße Taube. Ein Mann hat eine Kuhglocke dabei, Leute mit Trillerpfeifen gibt es auch. Einer schleppt ein Megafon.
Die Teilnehmenden kennen sich, der Großteil hat schon viele Montagsspaziergänge hinter sich. Alte Hasen. Man umarmt sich, man schnackt miteinander über Allerweltsthemen. Eine vertraute Atmosphäre.
Mit kurzen Ansprachen geht es los
Der Spaziergang, bei der Stadt offiziell als Demo angemeldet, startet mit kurzen Ansprachen. Versammlungsleiter Robert Brönhorst beginnt, später schnappt sich ein Herr mit roter Mütze das Mikro.
Es wird Dampf abgelassen. Als ob jemand ein Ventil geöffnet hat. Frust entweicht. „Die Regierung hat es geschafft, uns in Angst und Furcht zu versetzen. Und Furcht lässt Menschen leichter regierbar machen.“ Oder: „Widerstand braucht Mut. Wir müssen zusammenhalten.“ Zu hören ist auch der Schlachtruf „Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung“.
Danach setzt sich der Tross in Bewegung. Ein Audi zieht den Lautsprecher-Anhänger im Schritttempo durch Wulsdorf. Dahinter laufen die „Spaziergänger“.
Es geht vorrangig durch Neben- und Wohnstraßen, die großen Verkehrsachsen in Wulsdorf streift man nur. Die Polizei ist auch dabei - mit zwei Beamten. Sie begleiten den Demozug aus ihrem Bus heraus.
Das Blaulicht ist eingeschaltet. Wohl nur, um die Teilnehmenden vor dem Straßenverkehr abzusichern. Stress gibt es sonst keinen. Ein leichter Job für die Polizei. Alles ist friedlich. Und es bleibt friedlich.
Anwohner kommen hinter ihren Vorhängen zum Vorschein
Versammlungsleiter Brönhorst greift alle paar Minuten zum Mikrofon. Er dreht seine Anlage recht weit auf, spricht mit lauten Worten die Anwohner an. Die kommen oft hinter ihren Vorhängen am Fenster zum Vorschein, ducken sich aber auch meist flott wieder weg.
Andere zücken ihre Smartphones und filmen die Spaziergänger. Die Neugier ist groß. Demos gibt es hier nicht alle Tage. In Wulsdorf sieht man die Protestler sonst eher selten.
Wenn Brönhorst nicht redet, läuft Musik. Auch laut. Friedenslieder werden gespielt. Musik, wie man sie früher auch auf Ostermärschen gehört hat. Auf der Playlist taucht Reinhard Mey auf.
Die große Resonanz auf den Spaziergang bleibt aus. Spontan schließt sich niemand dem Zug an.

© Philipp Overschmidt
Robert Brönhorst spricht über Mikrofon zu den Anwohnern.
Die Spaziergänger wollen, dass der Krieg aufhört
Aber wer sind jetzt die Spaziergänger? An diesem Montag ganz bestimmt keine Spinner, keine Hetzer, keine Radikalen. Mit wem man sich aus der Truppe auch unterhält: Jeder Einzelne möchte, dass der Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich aufhört. Verhandlungen als Lösungsmittel.
Vor allem die USA stünden in der Verantwortung, den kriegerischen Wahnsinn zu stoppen, sagt ein älterer Mann, der an seinem Rollator eine Regenbogenfahne befestigt hat. Die Waffenlieferungen müssten aufhören.
Auffällig: Es gibt so gut wie keine Kritik an Russland. Dass das Putin-Regime einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet hatte, wird hier nicht näher in den Fokus genommen. Russlands Aggressionen sind kein Thema. Das Einzige, was in Richtung Russland geht, ist diese Aussage, ablesbar auf der kleinen LED-Wand: „Wir sind keine Putin-Versteher.“
Ein Mann, bestimmt um die 50, hält beim Spaziergang die Russland-Flagge in der Hand. Warum macht er das? Der Mann vertraut den Reportern nicht, das Wort „Lügenpresse“ fällt. Er zögert etwas. „Es ist nicht verboten, die russische Flagge zu tragen.“ Nach einer weiteren Pause dann: „Weil Russland zu schlecht wegkommt.“
Deutsche Spitzenpolitiker bekommen die Wut der Spaziergänger ab
Der Aggressor Russland wird auf der Demo meist verschont. Den verbalen Beschuss kriegen andere ab: Kanzler Scholz, Außenministerin Baerbock und Wirtschaftsminister Habeck bekommen von den Spaziergängern ihr Fett weg. Sie sehen die Spitzenpolitiker als Sündenböcke dafür, dass es Deutschland wirtschaftlich nicht gut geht, die Preise immer weiter steigen.
Die Spaziergänger sind knapp eine Stunde unterwegs. Endstation ist wieder auf dem Parkplatz an der Kappelmann-Straße. Nächste Woche geht es weiter. Anderer Ort, dasselbe Ziel: für den Frieden auf die Straße gehen.